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Untersuchte Arbeit: Seite: 42, Zeilen: 1ff (komplett), 102-108 |
Quelle: Hohenberger 1998 Seite(n): 20-21, 24-25, Zeilen: 20:35-41 - 21:1-9; 24:19-41 - 25:1-10; 27:17-21 |
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Auf der institutionellen Ebene unterscheidet sich der Dokumentarfilm vom Spielfilm durch seine ökonomischen Gesichtspunkte. Er wird mit weniger Kapital produziert und hat eigene Vertriebswege. Seine Öffentlichkeit ist beispielweise an Bildungseinrichtungen gebunden, da sich seine gesellschaftliche Funktion aus dem Anspruch auf Aufklärung und Wissen über die real existierende Welt herleitet. Als Produkt besteht der Unterschied zum Spielfilm auf der „Nichtfiktionalität seines Materials“, welches er abhängig von den Ereignisverläufen in realitätsbezogene Schemata organisiert.54
Die Schwierigkeiten der Dokumentarfilmtheorie, die fiktionalen Momente jeder Erzählung anzuerkennen und dennoch eine Eigenständigkeit des Dokumentarfilms gegenüber dem Spielfilm aufrechtzuerhalten, verweisen auf die ungeklärte Begriffsbestimmung des Fiktionalen ebenso wie auf die Zwanghaftigkeit, mit der sie selbst ihren Gegenstand von Fiktionen freihalten will. Denn es geht ihr weniger um Fiktionen im Sinne eines modellhaften „Als ob“, sondern lediglich um jene Fiktionen, die eine realistische Erzählung in Relation zu ihrem Gegenstand hervorruft. Die Filmtheorie der siebziger und achtziger Jahre definiert Realismus als jene Erzählung, die ihrem Gegenstand gegenüber in ein Verhältnis der Transparenz tritt, d.h. alle Zeichen ihrer Enunziation55 zugunsten der vermeintlichen Anwesenheit des Dargestellten negiert. In die Realismusproblematik geht einerseits die Debatte um die Ideologiehaltigkeit der filmischen Technologie ein (die in die Optiken der Kamera eingeschriebene zentralperspektivische Raumabbildung perpetuiert einen Blick auf das Dargestellte56), andererseits die psychoanalytischen Spekulationen über das eigentümliche Vergnügen an der Regression im Kinosaal, in der das zuschauende Subjekt nicht nur etwas prinzipiell Abwesendes (die „Welt“) für anwesend hält, sondern überdies sich selbst in primärer Identifikation mit der sehenden Instanz der Kamera für das Subjekt dieser Bilder hält.57 Was die Realismusdiskussion der Filmtheorie für die Theorie des Dokumentarfilms so interessant macht, ist die Tatsache, dass die Unsichtbarkeit der Mittel zugunsten der Präsenz des Dargestellten die Zielvorgabe des cinema direct ist, dessen methodische Regularität von Nichtintervention, minimalem technischen Aufwand und Ablehnung von Kommentar und Musik festgeschrieben ist. Der einfachen Formel des cinema direct, nach der ein Dokumentarfilm Ereignisse abbildet, „die auch ohne die Anwesenheit der Kamera stattgefunden hätten“58, wird die Komplexität dokumentarischer Realitätsbezüge entgegengesetzt. 54 Vgl. ebd., S. 21. 55 Zur Entwicklung der Filmtheorie von der Problematik der realistischen Transparenzillusion' zur Problematik der Enunziation siehe Christian Metz: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, Münster 1997. 56 Zur Ideologiehaltigkeit der filmischen Technik siehe Teresa de Lauretis/Stephen Heath: The Cinematic Apparatus, Basingstoke 1980; Philip Rosen: Narrative, Apparatus, Ideology. A Filmtheory Reader, New York 1986; Theresa Hak Kyung Cha: Apparatus. Cinematic Apparatus. Selected Writings, New York 1980. 57 Hohenberger: Dokumentarfilmtheorie, in: dies.: Bilder des Wirklichen, 1998, S. 25. 58 Roth: Dokumentarfilm seit 1960, 1982, S. 185. |
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1. Auf einer institutionellen Ebene unterscheidet sich der Dokumentarfilm vom Spielfilm durch eine alternative Ökonomie. Er wird weniger kapitalintensiv produziert, besitzt andere Vertriebswege, eine andere (etwa an Bildungseinrichtungen gebundene) Öffentlichkeit. 2. Auf einer sozialen Ebene unterscheidet sich der Dokumentar- vom Spielfilm durch einen Anspruch auf Aufklärung und Wissen über [Seite 21] die real existierende Welt. Der Dokumentarfilm hat gesellschaftlich eine andere Funktion als der Spielfilm. 3. Auf der Ebene des Produkts unterscheidet sich der Dokumentarfilm vom Spielfilm durch die Nichtfiktionalität seines Materials. In der Organisation dieses Materials ist er abhängig von den Ereignisverläufen der Wirklichkeit selbst. 4. Auf einer pragmatischen Ebene unterscheidet sich der Dokumentar- vom Spielfilm durch die Aktivierung realitätsbezogener Schemata. [Seite 24] Die Schwierigkeiten der Dokumentarfilmtheorie, die fiktionalen Momente jeder Erzählung anzuerkennen und dennoch eine Eigenständigkeit des Dokumentarfilms gegenüber dem Spielfilm aufrechtzuerhalten, verweisen auf die ungeklärte Begriffsbestimmung des Fiktionalen ebenso wie auf die Zwanghaftigkeit, mit der sie selbst ihren Gegenstand von Fiktionen freihalten will. Denn es geht ihr weniger um Fiktionen im Sinne eines modellhaften >Als ob< (mit denen natürlich auch die Rhetorik des expositorischen Modus arbeitet, den Nichols dem beobachtenden Modus deutlich vorzieht), sondern lediglich um jene Fiktionen, die eine spezifische Erzählung, nämlich die realistische, in Relation zu ihrem Gegenstand hervorruft. Die Filmtheorie der siebziger und achtziger Jahre definiert Realismus als jene Erzählung, die ihrem Gegenstand gegenüber in ein Verhältnis der Transparenz tritt, d.h., alle Zeichen ihrer Enunziation14 zugunsten der vermeintlichen Anwesenheit des Dargestellten negiert. In die Realismusproblematik ging einerseits die Debatte um die Ideologiehaltigkeit der filmischen Technologie ein (die in die Optiken der Kamera eingeschriebene zentralperspektivische Raumabbildung perpetuiert einen Herrschaftsblick auf das Dargestellte; die filmische Technik ist keineswegs neutral15) und andererseits die psychoanalytischen Spekulationen über das eigentümliche Vergnügen an der Regression im Kinosaal, in der das zuschauende Subjekt nicht nur etwas prinzipiell Abwesendes (die Diegese, die >Welt<) für anwesend hält, sondern [Seite 25] überdies sich selbst in der primären Identifikation mit der sehenden Instanz der Kamera für das Subjekt dieser Bilder hält.16 Was die Realismusdiskussion der Filmtheorie für die Theorie des Dokumentarfilms so interessant machte, ist die Tatsache, daß die Unsichtbarkeit der Mittel zugunsten der Präsenz des Dargestellten eben nicht nur die (ideologiehaltigen) Fiktionen des Spielfilms darstellen, sondern ebenso die Zielvorgaben des cinema direct, die in seinen methodischen Regularien von Nichtintervention, minimalem technischen Aufwand und Ablehnung von Kommentar und Musik festgeschrieben werden. [Seite 27] Der einfachen Formel des cinema direct, ein Dokumentarfilm bildet Ereignisse ab, »die auch ohne die Anwesenheit der Kamera stattgefunden hätten« (Roth 1982, 185), setzte sie die Komplexität dokumentarischer Realitätsbezüge entgegen. 14. Zur Entwicklung der Filmtheorie von der Problematik der realistischen >Transparenzillusion< zur Problematik der Enunziation siehe Metz 1997. 15. Zur Ideologiehaltigkeit der filmischen Technik siehe Teresa de Lauretis/Stephen Heath (eds.): The Cinematic Apparatus. London/Basingstoke 1980; Jean-Louis Baudry: Effets idéologiques produits par l’apparail de base. In: Cinethique, N.7/8, 1970; Jean-Louis Comolli: Technique and Ideology. Camera, Perspective, Depth of Field. In: Film Reader, N.2, 1977, S. 128-140; Philip Rosen (ed.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Filmtheory Reader. New York 1986; Theresa Hak Kyung Cha (ed.): Apparatus. Cinematic Apparatus. Selected Writings. New York 1980. 16. Zur psychoanalytischen Theorie des filmischen Subjekteffekts siehe Jean-Louis Baudry: Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen zum Realitätseindruck. In: Psyche, Nr.l1, 1994, S.1047-1074; Christian Metz: Le Signifiant Imaginaire. Paris 1984; Christian Metz: Der fiktionale Film und sein Zuschauer. In: Psyche, Nr.11, 1994, S. 1004-1046. |
Art und Umfang der Übernahme bleiben ungekennzeichnet. |
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